Zwischen Tag und Nacht und wenn die Lämmer wieder springen
Liebe Schwestern und Brüder,
Eben habe ich nach einer fast zweiwöchigen „Gehpause“ meine erste langsame Runde im Garten gedreht. Es ist windstill, der Haselstrauch blüht und der goldene Blütenstaub hängt fast schwer, aber auch verheissungsvoll an den Zweigen. Die ersten Veilchen und Krokusse blühen und die Schneeglöckchen auch. Der Winter legt die langen Nächte leise dem Frühling zu Füssen und mehr Tageslicht und Wärme zaubern das Leben neu in die Natur. Es ist friedlich und schön – fast ein Kontrast zu den letzten turbulenten Wochen. Und doch webt sich das Turbulente in diesen Fluss des Lebens, als gehöre es halt einfach dazu.
So bin ich vor knapp zwei Wochen etwas unglücklich im Schnee gelandet und habe mir die Wadenmuskulatur ordentlich verzerrt. Die dringendsten Aufgaben, vor allem das Versorgen von Patienten konnte ich – Dank der Hilfe von Sr. Michaela und Abris altem Rolli und Krücken - einigermassen schaffen.
Mit den Pflegeschülern hatten wir einen Schneeausflug geplant. Das haben die „Grossen“ sich sehr gewünscht. Ich wollte einen Tag vorher, am Sonntag, die Schneelandschaft erkunden und eine Meditation vorbereiten etc. Dann bin ich blöd gefallen und die Exkursion war nicht mehr möglich. Aber ich möchte kurz von diesen „meinen“ Schülern erzählen. Es sind 14 Erwachsene, die voller Eifer und Wissensdurst lernen, fragen, motiviert in die Pflegeeinsätze gehen. Nach einer Woche mit Blockunterricht am Nachmittag sagten sie, es wäre eigentlich zu wenig, nur wieder einmal in der Woche Unterricht zu machen. Da sind Erwachsene von 23 bis 58 Jahren beisammen und lernen und experimentieren und machen an sich selbst Pflegeerfahrungen. Manchmal bin ich so getroffen, wie motiviert sie sind, wie sie erzählen, wie sie froh sind, lernen zu dürfen und wie sie auch sagen: „Warum hat uns das noch niemand gesagt?“ Eine Teilnehmerin, die jeden Tag schwer schuftet, deren Mann vor 23 Jahren erschossen wurde, hat nach vier Monaten ihr ganzes Leben verändert. Sie kann wieder lächeln, ist von einer harten, verschlossenen Person eine von allen geliebte „Mami“ geworden. Als ich ihr neulich zur Pause einen Schokikeks mit ihrem Namen und einem gemalten Smiley an ihren Platz gelegt habe, fing sie zu weinen an und sagte zu allen: „Noch nie in meinem Leben hat auch nur irgendjemand einmal meinen Namen geschrieben!“ Sie hat den Zettel mit Smiley und Namen genommen, den Keks damit eingewickelt und gesagt: „Das nehme ich mit heim, den esse ich nie!“ Die Dynamik in der Gruppe überrascht mich auch. Ich gebe zu, ich hatte wirklich „Schiss“ wie das klappen würde: ich kannte nur drei der TeilnehmerInnen. Und da sind: junge Frauen, Mütter, zwei junge Männer, ein paar Ordensschwestern, zwei Witwen. Es ist fast ein Wunder für mich, wie sie miteinander auch einen persönlichen Weg in diesen Stunden miteinander gehen. Und sie lernen die Pflege der Kranken immer mehr zu lieben und ich bin überzeugt, dass sie in ihren Dörfern gute Arbeit tun werden. Da ich jetzt pausieren musste, konnte ich die Praktikumseinsätze bei den Kranken draussen noch nicht in vollem Umfang begleiten. Dies wird nun bald beginnen.
So sind nun Miriam und Klodi mit in ein Dorf an der Grenze gefahren. Diesen Mann konnte ich nicht warten lassen. Gani wurde mit seinem Motorradl angefahren. Der Autofahrer hat ihn liegenlassen und ist abgehauen. Als sie ihn fanden, war er schwer verletzt. Er kam mit gebrochenem Jochbein und Schädelhirn-Trauma ins Krankenhaus nach Tirana. Bewusstlos war er da nicht mehr. Sie haben das gebrochene und verschobene Jochbein ohne Narkose sozusagen wieder an seinen Platz geschoben. Schmerzmittel hatte er dafür keine bekommen, nur die Anweisung, nicht zu schreien. Der Augapfel war wie verschoben, kauen kann er immer noch nicht richtig. Und Gani sagte Ärzten und Pflegern von Beginn an, dass es ihn am Rücken schmerzt und brennt und er sich sicher ist, dass er dort eine Wunde habe. Sie sagten, er wäre geröntgt, da sei gar nix! Er hatte schlimme Schmerzen am Rücken, aber keiner reagierte. Gewaschen wird man sowieso nicht. Nach vier Tagen wurde er in schlechtem Zustand entlassen. Dann sahen die Angehörigen die schwer nekrotisierte und infizierte Brandwunde, als sie in daheim anschauten. Der heisse Auspuff vom Motorrad hat sich durch die Kleidung in die Lende von Gani gebohrt. So fanden wir den Patienten schwer krank mit starken Schmerzen, ohne jeglichen Schlaf und irgendwie auch verzweifelt auf seinem Sofa liegend. Die Familie war hilflos. Bereits nach der ersten Versorgung ging es ihm besser. Gani konnte nicht glauben, dass er ernst genommen wird, dass er sagen darf, wie sehr es weh tut usw. Als wir gestern bei ihm waren, da begrüsste er uns an der Haustür und strahlte uns an. Es ist ihm nicht mehr schwindelig, er hat sein Gleichgewicht wieder gefunden. Und er kann sich an seinen vier jungen Lämmern freuen, die auf seiner Weide neben dem Haus rumhüpfen und auch für Gani den Frühling bringen. Wenn er uns dann immer mit Tränen in den Augen die Hände küsst, dann denke ich daran, wie dieser Mann erniedrigt wurde und wie er sein Trauma langsam überwinden wird. Und er wird wieder seine Lämmer und Schafe versorgen können.
Ob Violeta auch wieder ihrer täglichen Arbeit nachgehen kann, dies wird sich in den nächsten Tagen und Wochen zeigen. Sie hatte einen schweren Autounfall. Sehr schnell wurde sie wieder aus dem Traumaspital in Tirana heimgeschickt. Beide Hände waren Knochenmatsche, das rechte Bein von oben bis unten zertrümmert. Die Familie lebt sehr ärmlich und sie brauchte dringend ein Krankenbett. Gott sei Dank können wir – Dank der Transporte – immer wieder Krankenbetten verleihen. Violeta war in schlimmem Zustand. Aus der operierten Wunde am Bein lief die Siffe – die Drainage wurde einfach gezogen, als sie am zweiten Tag nach der schweren Operation entlassen wurde. Das Knie war kein Knie mehr: ein schwarzer, blauer, dicker, harter Bollen gaffte uns entgegen. Schmerzmittel hatte sie keine, die vom Krankenhaus mitgegebenen Blutverdünner waren aus. Der Mann hatte hier alle Apotheken abgeklappert, aber nirgendwo die Spritzen bekommen, auch konnte er sowieso nicht mehr bezahlen. Schwester Michaela fuhr noch den ganzen Abend rum, um dieses wichtige Medikament aufzutreiben. Irgendwie fühlte ich mich in diesem Moment hilflos und wütend. Das gebe ich zu. Dann siegte in mir der Wille, diese Frau nicht allein zu lassen.
Und Sr. Michaela guckte mich sehr ermutigend an. Sie merkte wohl, dass mir nicht mehr wohl war. So etwas hatte ich vorher auch noch nie gesehen. Ich begriff, dass es immer noch Steigerungen in dem gibt, was es eigentlich nicht geben darf. Und die Augen von Violeta guckten mich treuherzig an. Sie hatte nicht gemerkt, dass ich am liebsten das alles nicht sehen wollte, dass ich es einfach nicht wahrhaben wollte, was ich da sah. Aber es war ja schon passiert und da war es in mir wieder mal, dieses: „Lauf weg, wenn Du kannst!“ Ich lachte über mich selbst und wusste, dass auch hier der HERR mit im Boot ist. Und so packten wir es an und versorgten Violeta. Zum Schluss sahen wir noch, dass die Beinschiene völlig ungepolstert war und ihr schon Blasen durch Druck verursacht hatte. So improvisierten wir und bauten ein gutes Polster, um gut zu lagern. Die beiden Hände und Handgelenke waren eingegipst mit einem Gips, den man höchstens im ersten Weltkrieg noch gemacht hat. Die Finger waren geschwollen, aber beweglich. Schwester Michaela zeigte mir dann die letzten Sätze vom Entlassungspapier und da stand in schwarzen Buchstaben: „Zur Rente anmelden.“ Wir guckten uns an.
Wir entschieden, erstmal nichts davon zu sagen. Alles zu seiner Zeit. Dann kam mir die Idee, dass Violeta irgendwas mit ihren Fingern tun muss, um nicht in die Depression abzugleiten. Sie war bereits in einer Krise. Über Nacht fiel mir ein, dass ich noch eine Handharfe aufbewahrt habe. So brachten Miriam und ich ihr diese beim nächsten Besuch vorbei. Als diese Frau mit vier Kindern dieses Instrument sah, da strahlte sie. Ich legte es ihr aufs Bett in ihre Gipshände. Sie fing sofort an, die Saiten zu streichen – mit Gips. Dann sagte sie: „Schon als Kind wollte ich so ein Instrument. Nun habe ich so etwas bekommen.“ Und sie spielte einfach. Glück finden im Unglück. So hat uns in diesem Moment Violeta gelehrt. Sie spielt einfach. Und nun ist es Zeit für sie, dass in Tirana der Gips wegkommt. Sie war heute dort und wir wissen noch nicht, wie es ihr geht. Aber wir werden mit ihr üben und üben. Sie wird im Frühling vielleicht nicht wie die Lämmer springen, aber wenigstens mit Mut die ersten Schritte tun dürfen.
Und die Grippewelle hier ist langsam auch am Abklingen. Unsere zwei Jungs hatte es vor zwei Wochen schwer erwischt, dann auch Miriam, unsere so hilfreiche und tolle Praktikantin. Es waren schwere Tage, vor allem, weil die Kids so hohes Fieber hatten und wirklich gelitten haben. Gott sei Dank ist auch Antonio in solchen Zeiten absolut kooperativ und schluckt alle Medizin, wenn man ihm es erklärt. Er war sehr schwach, aber er hat auch eine starke Natur.
So könnten wir jeden Tag viele Geschichten erzählen. Wir leben und erleben intensiv und das sehe ich als Geschenk des Lebens. Und so stehen wir vor der Fastenzeit. Seit einigen Tagen fällt mir immer wieder ein Satz des Jeremia ins Herz: „ICH WILL EUCH ZUKUNFT UND HOFFNUNG GEBEN!“ Ich glaube, ich werde diese Zusage auch als Aufgabe mit in diese kommende Heilszeit nehmen. Viele hier haben die Hoffnung auf eine menschenwürdige Zukunft in diesem Land verloren. Diese Tage haben wir erfahren, dass lt. Volkszählung, die nicht veröffentlicht ist, nur noch 1,3 Millionen albanische Bewohner in diesem Land leben. Dies können wir nicht verifizieren, aber wir wissen, wie viele der neu gebauten Häuser hier leer stehen, wie viele Jugendliche über Nacht immer noch illegal verschwinden, wie viele Familien gehen, wie viele Ärzte und Krankenschwestern fehlen. Und da flammt diese Zusage der Zukunft und Hoffnung nun seit ein paar Nächten immer wieder in meinem Kopf, in meinem Herzen und in meinem Glauben. Und so möchten wir jeden Tag, der neu ist, jeden Frühling, der vom Leben spricht, jedes Lamm das hüpft und jeden Menschen, der hier aus dem Klösterli geht und wieder lächeln kann auf die andere Seite der Negativwaage legen und diese Zusage einlösen. Vielleicht hat Gott uns dazu geschaffen? Und am Ende dieses Briefes ist es mir und uns ein Bedürfnis, wieder DANKE zu sagen. Ihr helft viel, Ihr betet viel für uns, Ihr gebt viel und opfert viel. Und Ihr gebt Zukunft mit der kleinsten Spende, mit jedem wohlwollenden Gedanken für uns. Vergelt`s Gott.
Mit herzlichen Segenswünschen für eine gute, erfüllte Fastenzeit grüssen Euch
Sr. Christina und Sr. Michaela