Klagelieder
Liebe Schwestern und Brüder in der Heimat.
Der Januar ist fast verflogen, als wäre er ein kurzer, aber eindrücklicher Gedanke gewesen. Gerne schicken wir Euch den ersten Rundbrief von hier. Wir hoffen, Ihr alle hattet einen guten Jahresbeginn und ich denke, wir teilen mit Euch die Hoffnung auf Frieden. Bei uns haben die ersten Wochen im Jahr turbulent begonnen und die Langeweile lauert bei uns sicher nicht an der Türe. In den vier Wochen hatten wir viel Regen und die Hochwassermarke ist immer noch nicht überwunden. Nach wie vor stehen Häuser am Stadtrand im Wasser und der Pegelstand des Sees ist hoch. Bislang sind wir mit einer nassen Zehe davongekommen, und wir sind dankbar dafür. Vor zwei Wochen hat uns dann ein Erdbeben aus dem Bett geholt, aber auch das lief bei uns glimpflich ab – im Südwesten hat es ein Dorf aber ziemlich erwischt. Gleich darauf ist in der Früh um 4 Uhr bei einem Nachbarn eine Bombe explodiert. Die Erschütterung sitzt mir noch heute in den Knochen. Wir gingen gleich am Morgen zur Grossfamilie und die zwei jugendlichen Jungs nahmen wir erstmal mit zu uns ins Kloster. Die massiven Schäden am Haus sind fast behoben, die Angst ist geblieben. Rache für irgendwas! Der Grossvater sagte mir mit zitternder Stimme: «Schwester, ich bin schon so alt, aber so was habe ich noch nie erlebt. Warum tut das jemand, wir schulden niemanden etwas, wirklich nicht!»
In unserer Ambulanz häufen sich die Patienten, wir haben in der Woche bis zu 70 Hilfe-suchende, die behandelt werden müssen. Und in diesem fast primitiven Raum, der einmal, als wir hier begonnen haben, als Bügelzimmer gedacht war, da geschieht viel mehr als nur die Heilung des Körpers: da brechen andere Wunden auf; die Wunden der Seele, grausame Erinnerungen, Lebensgeschichten von Not und Elend, Schuld und Sühne, begrabene Er-wartungen und neu erstandene Hoffnungen, Aussichtslosigkeit und doch leben müssen, Annahme von Leben und Tod. In die Ambulanzmauern sind diese Geschichten einge-schrieben, wie auch in unser Herz – bis zum Ende unserer Tage. Der Allmächtige wird dann das wandeln, was wir nicht heilen konnten. Aber viele gehen auch erleichtert von uns. Manche möchten, dass wir den Heilungsprozess verzögern, um weiterhin kommen zu können.
In der letzten Woche hörten wir von Meningitis und Encephalitis, vor allem bei Kindern. Gestern ist in Tirana im Kinderspital die kleine Enkelin von Dushe, unserer Romafreundin, an dieser gefährlichen Hirnentzündung gestorben. Die Kleine hat 10 Tage gekämpft. Dushe ist in tiefer Trauer. Wir treffen im Kinderzentrum die ersten Vorsichtsmassnahmen, vor allem sensibilisieren wir die Erzieherinnen und Eltern zum Erkennen erster Symptome. Da wir auch eine schwere Grippeepidemie hier haben, überlegen wir uns genau, wie wir vorgehen, um keine Panik auszulösen. Dem Gesundheitsamt in Shkoder war bislang gar nichts vom Auftreten der Erkrankung bekannt.
Die häusliche Versorgung von schwerkranken und pflegebedürftigen Patienten nimmt zu, der Bedarf ist rapid am Anwachsen. Manchmal haben wir den Eindruck, dass in fast jeder Sippe jemand bettlägerig ist. Die letzten Wochen sind wir sehr weit in ein Dorf «am Ende der Welt» gefahren. Dort liegt ein Mann in den Fünfzigern mit offenen Krebsgeschwür im Unterbauch in furchtbarem Zustand. Die Familie ist hilflos. Gott sei Dank kam noch eine andere Ordensschwester, die jeden Tag die Verbände macht. Sie spricht kein albanisch und so ist die Verständigung mit den Betroffenen sehr schwierig. Wir haben eine gute Zusammenarbeit vereinbart und sie ist froh um unsere Erfahrung. Nun hat der Patient zu bluten begonnen, der Tumor hat sozusagen ein Gefäss angefressen. Er verlangt uns regelmässig. Seine Klage ist stumm – er hat wohl gelernt, stark zu sein. Aber seine Augen reden von Angst und der grossen Frage: «Warum denn ich – meine Familie braucht mich noch?» Dieser Mann wurde in Italien operiert. «Leider erfolglos» steht auf den Entlassungspapieren der Klinik. Mit ein paar mickrigen Schmerzmitteln und 70.000.-- Euro Schulden wurde er zurück in sein Tabakdorf geschickt. Dieser Vater kann nicht sterben, weil er noch die Schulden abarbeiten möchte – mit Tabakanbau. In dieser Gegend gibt es nichts anderes als giftige Tabakpflanzungen.
Und dann ist da Zen aus den Bergen. Er hat sich mit seiner Familie am See angesiedelt. Er kommt und bittet um einen Besuch bei seiner Frau. Er sagt, dass diese seit vier Jahren nicht mehr weiss, was sie tut. Jetzt kann auch er nicht mehr und seine Kinder sind im Ausland, eine Tochter ist weiter weg in den Bergen verheiratet. Ich weiss, ich muss schnell hin, denn Zen kommt nicht mehr zurecht. Sie leben hier am See, weit draussen in der Siedlung. Der Achtzigjährige wartet schon am Holperweg auf mich. Er ist rüstig und auch geistig fit, aber nun auch finanziell am Ende und hilflos. Bereits im Hof höre ich eigenartige Laute: ein Trällern, dann ein Gurgeln, Trällern, eine hohe Stimme, dann ein langes Klagen, das sich wie in den Schluchten der Verfluchten Berge des Dukagjin verflüchtigt, um dann aber wieder im Trällern aufzutauchen. Ich denke fas automatisch an die Klagefrauen hier und horche auf und Zen nickt leise und ich weiss, was er sagen möchte: «Meine Frau!» Ich fasse ihn kurz am Oberarm und nicke ihm mein Verstehen zu. Er braucht sich nicht zu schämen. Dann trete ich in den Klageraum. Am Sofa sitzt eine alte Frau mit weissem Kopftuch. Sie ist mit einem Kabel an das Sofa gebunden. Der Mann sagt entschuldigend, dass er seine Frau anbinden muss, da sie sonst aufsteht und sofort hinfällt. Ich nicke ihm zu. Ob lIiria mich wahrnimmt, kann ich nicht sagen. Als ich mich auf Augenhöhe zu ihr niederknie, klagt und trällert sie weiter, aber ich meine, sie hat mich flüchtig mit ihrem Blick gestreift. Dieser Blick ist tief und geheimnis-voll wie die Schlucht im Dukagjin. Ich berühre vorsichtig ihre Hand. Sie zieht diese nicht zurück, aber erwidert auch nicht den leichten Druck. Ich setzte mich neben ihr aufs Sofa. Ich kann keinen Widerstand wahrnehmen, aber auch keine positive Reaktion. Alles wirkt versenkt wie in die Tiefe einer Schlucht! Auf ihren Namen reagiert sie auch nicht – sie hat wohl für sich einen anderen Namen gefunden – dort, wo ich sie nicht erreiche. Ich spüre, wie ich in mir suche und suche. Ich möchte sie erreichen – irgendwie erreichen. Und ich spüre, wie ich ein Zeichen von ihr ergattern möchte, ein Zeichen, dass mir ihre Klage deutet. Aber da spüre ich Scham in mir: ich entschuldige mich leise bei Iliria: das darf ich nicht!
In diese Schlucht der Klage muss sie mich führen – wenn sie möchte. Und dann erzählt mir ihr Mann ihre Geschichte: Er sagt, sie war völlig normal, bis zu dem Tag, der ein furchtbarer Tag war. Vor vier Jahren wurde ihre Tochter vom eigenen Mann mit dem Spaten erschlagen, bzw. grausam in Stücke gehauen. Seitdem ist Iliria – die Freie - in die Schlucht gefallen und weiss nicht mehr, was sie tut, meint er. Sie war damals 66 Jahre alt. Mir schnürt es die Kehle zu. Ich brauche einen Moment. Dann bitte ich den Mann in den Korridor und frage ihn dort nach dem Namen der Tochter. Sie hiess Lumturia - die Glückselige! Ich gehe zur Frau zurück, knie mich zu ihr runter und fasse sie nochmal ruhig an den Händen. Sie trällert und klagt weiter. Und ich handle nun einzig «aus dem Bauch raus». Ich nehme ihren Klageton auf und flechte den Namen ihrer Tochter ein: LUMTURIA -LUMTURIA. Dann passiert etwas Grosses:
Für einen recht langen Augenblick verstummt Iliria. Sie guckt mich nun aus Augen an, die von weither kommen – aus der Tiefe der Schlucht. Und dann weichen ein paar klare Tränen dieser jahrelangen Klage. Sie laufen ihr über beide Wangen. Dann ist alles wieder wie vorher und doch ganz anders. Wir haben uns getroffen – im Irgendwo. Und ich flüstere wohl mehr, als ich ihr sage: «Deine Lumturia ist bei deinem Gott und du hast sie nie vergessen.»
So ist es bei uns schon Frühling geworden und die Osterglocken blühen neben den Christ-rosen. Es ist in der Natur, als wäre die Zeit «alles in allem». Und ich denke oft an das, was in unserer Ordensweisung steht: «Den Augenblick leben und heiligen!»
Von Herzen grüssen wir Euch von unserem Klösterle und danken für alle Hilfe, alles Wohlwollen und jedes Gebet, um das wir bitten.
Gottes Segen mit Euch
Sr. Christina und Sr. Michaela