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10Der Weg nach Nirgendwo

 

 

Der Weg nach Nirgendwo

Ich bekomme keinen Kontakt zu Ilda – seit Tagen. Dann taucht ihre Meldung in einer Skypenachricht auf von irgendwo-nirgendwo.

Diese lautet: «Ich wollte nochmal zu Dir kommen, um mich zu verabschieden. Aber es hat nicht geklappt. Ich bin seit vorgestern weg – irgendwo in Frankreich, mit meinem Verlobten. Ich hoffe, dass alles gut geht und das, was ich in den Gruppenstunden mit Euch gelernt habe, wird mir über schwere Zeiten helfen». Dann kommt ein herzlicher Gruss und ich spüre jetzt schon ihr Heimweh. Ilda war die letzte meiner Jugendgruppe, die ins Ausland ist – nach Nirgendwo – ohne Identität, da sie illegal dort ist. Sie verlässt ihre bettelarme Familie und ich habe den Eindruck, dass sie weggegangen ist, damit sie der Familie nicht mehr «auf der Tasche liegt». Sie sucht nicht das Abenteuer; die Not im Genick hat sie zur Flucht getrieben. Und ihren Verlobten kennt sie nicht mal richtig. Hier werden noch viele junge Mädchen unfreiwillig verlobt oder sie fügen sich einfach, wenn sie verschachert werden. Wie eben Ilda. Nun hat sie dort im fremden Land, dessen Sprache sie nicht kennt, einzig die Hoffnung, dass sie schon irgendwie durchkommen wird – vielleicht mit den Erinnerungen an das, was sie in den Gruppenstunden aufgenommen hat – wie sie noch schreibt. Sie ist im Nirgendwo als Nirgendwer – wie so viele hier. Ein ruheloses Leben, immer in Angst, als «Illegaler» erwischt zu werden, irgendwo in einer Wohnung versteckt, angewiesen auf den Verlobten, der auch keine Papiere hat. Wo und wie wird es enden? Oft habe ich den Gruppenstunden auch genau vor diesen Situationen gewarnt, ausgeführt, was es bedeutet, wenn man ohne gültige Papiere ins Ausland geht. Wieder ist der Appell wie ein leeres blechernes Echo verhallt. Ich spüre, wie ich trauere. Ja ich trauere um diese so wertvollen jungen Menschen, die so das Land verlassen. Und alle haben Heimweh nach ihrem Heimatland und nach ihren Lieben daheim. Ich versuche, mit Ilda Kontakt zu halten, aber sie kann oft nicht reagieren. Dann habe ich Sorge, ob es ihr gut geht mit ihrem Verlobten oder ob sie irgendwo verschwunden ist in einer Substruktur, die Mädchen auf ihre Weise verkauft und versklavt. Ja, ich mache mir Sorge und bin immer sehr froh, wenn ich dann doch ein Lebenszeichen bekomme. Und es sind so viele junge Menschen, die fortgehen und wie im Nichts ver-schwinden. Und ich denke, vielleicht hat sie ja Glück und ich schicke ihr den Segen. Das ist alles, was bleibt.

10 dezember 2022 

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