Bora hält die Treue
Bora hält die Treue
Bora ist seit August Witwe. Sie hat ihren Mann, der drei Kinder hinterlässt, an Krebs sterben sehen. Ihr Jüngster ist der Schulfreund von Abraham. Eben hat sie eine schwere Knie-operation hinter sich. Wir versuchen, die Familie einigermassen zu begleiten. Mittellos stehen sie nun da. Bora heisst «SCHNEE». Bora hatte gerne farbige Kleider an. Und auch das WEISS trug sie gerne. Das ist nun vorbei – für immer.
Gestern gab sie Schwester Michaela drei grosse Tüten in die Hand mit den Worten: «Schwester, diese Kleider sollt ihr an jene austeilen, die sie brauchen können und Freude daran haben. Ich habe sie nun aus dem Schrank. Ich werde sie nicht mehr tragen».
Mir fiel es wieder wie Schuppen von den Augen. Ja, Bora ist Witwe. Und das heisst hier bei den Leuten aus den Bergen: «Für immer muss sie schwarz tragen. Treue auf ewig!». Sehr wachsam ist da die Umgebung und Verwandtschaft vor allem des verstorbenen Mannes. Farbe ist nicht mehr geduldet. Trauer bis ins eigene Grab. Ich möchte mich aufbäumen, da ich weiss, wie lebensfroh Bora eigentlich ist. Aber, sie wird sich beugen. Aus dieser Tradition aussteigen bedeutet, aus der Sippe ausgestossen zu werden, geächtet zu sein. Ein Ausziehen der Witwenkleider wird als Ehrverletzung des verstorbenen Mannes gedeutet. Das ist Tabu.
Ich bin in diesem Moment betroffen und weiss gleichzeitig, dass ich dies akzeptieren werde. Bora möchte ihren Mann die Ehre geben mit ihrer schwarzen Witwenkleidung bis ans Ende ihres Lebens. Dies ist mir klar.
So fahre ich noch am Abend mit Schwester Michaela in die Stadt und wir kaufen für Bora zu Weihnachten eine schicke schwarze Hose, einen schwarzen, leicht silbrig schimmernden Pulli und eine schwarze Überziehjacke. Und ich wünsche heimlich, dass zu Weihnachten Schnee fallen darf für Bora, weisser Schnee.