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Aufgebrochen

 

Liebe Schwestern und Brüder, liebe Freunde in der Heimat


granatapfelEs knackt, als der überreife Granatapfel auf meinem Teller auseinanderbricht. Zahllose kleine, glänzende tief rote Kerne dieser Frucht stechen mir ins Auge. Die Fruchtbarkeit des Herbstes liegt offen vor mir. Herb-süsse Kostbarkeit! Wieder einmal danke ich für Gaben, die uns die Armen bringen: Trauben, Feigen, Walnüsse, Esskastanien und der Granatapfel. Es ist Herbst geworden, trockener, heisser Herbst heuer. Etliche Brunnen geben kein Wasser mehr, der Wasserstand des Sees ist enorm niedrig. Aber der Granatapfel ist gereift unter der Sonne der letzten 10 Wochen. Und daneben ist viel aufgebrochen seit wir aus den Ferien wieder hier sind. Jeden Tag sind wir belagert und die Leute suchen uns auf, als wären wir die einzig sichere Insel hier. Und da ist oft dann halt nur ein mit Dasein möglich, ein mit Aushalten von Situationen, die wir uns im modernen Europa nicht mehr vorstellen können. Und wenn ich konkretes schreibe, dann weiss ich gar nicht, wo ich anfangen soll.


Nun, da ist unser vergifteter Hund. Wir vermissen die Loja; wer das Rattengift in die Salami gespickt hat, das wissen wir nicht und es ist auch besser, es gar nicht zu wissen. Da dieser Wächter nicht mehr ist, verlassen wir uns umso mehr auf den Erzengel Michael. Unsere Gegend ist zur Zeit relativ unruhig. Zwei Banden sind im akuten Gangsterkrieg und die Bevölkerung hat Angst. Vorgestern nun hörte Sr. Michaela am Vormittag unseren Nachbarn fruchtbar schimpfen. Mitten am Tag war bei ihm eingebrochen worden. Die Täter fuhren mit einem Auto vor und räumten das Haus aus. Einige unserer Bettler vor dem Tor haben da seelenruhig zugeguckt, aber gemeint, es wären Arbeiter. Hier steht auf so einen Bruch Blutrache. Der Einbrecher hat dem Hausherrn mit dieser Attacke die Ehre genommen, denn es bedeutet, dass der Herr des Hauses nicht fähig ist, Frau, Kinder, Haus und Hof zu schützen. Sofort ist das Thema Blutrache präsent und die Situation ist noch nicht gelöst. Die Sippe ist ziemlich mächtig und der Kommentar einer Frau aus der Sippe mir gegenüber war: „Die wissen nicht, wie viele starke Männer wir in der Sippe haben, die sind ganz schön mutig, hier einzubrechen!“ Wir versuchen, da entgegen zu wirken und werden heute noch einen weiteren Besuch machen und das Haus der Familie segnen. Und wir hoffen und beten, dass die 6 Brüder „vernünftig“ sind.


Im Krankenhaus wurden 8 Ärzte wegen Korruption verhaftet. Das gesamte medizinische System ist jeden Tag noch mehr marod. Und die Patienten stehen Schlange bei uns. Wir müssen zeitweilig einen „Aufnahmestopp“ verhängen, weil wir nicht mehr nachkommen. Wir nehmen uns dies zumindest immer wieder vor. Aber dann, ja dann ruft es draussen: „Moter, Moter“… eine alte Frau streckt ihr schwer verbranntes Bein durch das Gartentor …und ich hole den Schlüssel…seit drei Tagen ist sie verbrannt – beim Schnapsbrennen…. Wir kratzen erstmal wieder irgendein Naturmittel ab und sehen, dass die Wunde total infiziert ist, das Bein zweimal so dick usw.


Dann kommt Albert, der gerade bei uns zu Besuch ist: Draussen ist ein Mann, der ihm den blutigen Daumen entgegenreckt. Vor einer halben Stunde hat der sich beim Schwarzarbeiten in den Daumen gehackt, das abgehackte Teil wieder drauf gesetzt und ist mit dem Radl zu uns gefahren. Das Krankenhaus verweigert er. Es ist nicht ganz so schlimm und wir flicken ihn zusammen. Dann ist da heute noch die Bona. Sie ist unsere Ladenbesitzerin. Bei ihr dürfen die Leute in der Zone das monatliche Mehl abholen. Ihr geht es total schlecht. Sie hatte einen Abszess am Brustbein, der operiert wurde. Da klafft nun ein voll infiziertes Loch; die Krankenschwester hat ihr dann noch einen Tag vorher Eiter einfach ausgedrückt. Jetzt hat sie Schüttelfrost und kann sich vor Schmerzen kaum noch auf den Beinen halten. Da es Samstag ist, können wir sie nicht nach Tirana bringen. Wir versorgen sie, geben ihr Antibiotika und Schmerzmittel und leiten den Transfer nach Tirana ein. Inzwischen haben wir Berti, einen Fahrer, der die Patienten mit Irena oder Leci nach Tirana bringt. Der Zugang zu Fachärzten dort ist enorm erschwert worden. Aber dank der guten Kontakte, die unsere Mitarbeiter aufgebaut haben, schaffen wir das immer wieder. Das Volk leidet. Die Wunden bluten wie der Granatapfel, der aufgebrochen ist - so scheint es mir. Und Bona guckt mich tief traurig an. Sie erzählt, dass vor zwei Monaten ihr einziger Sohn mit gerade mal 18 Jahren das Land und die Eltern verlassen hat. Für viel Geld ist er illegal in einem Kühlcontainer mit einem Schlepper ins Ausland. Drei Wochen war er unterwegs und sie wussten nichts von ihm. Nun arbeitet er irgendwo schwarz und zu einem Sklavenlohn. Und es sind viele, auch Familien, die derzeit den illegalen Weg ins Ausland wählen; ein verzweifelter Exodus, weil hier so viele keine Hoffnung mehr haben. Die Kriminalität, die Banden, die medizinische Unterversorgung, die Arbeitslosigkeit, das alles treibt sie auf gefährliche Schlepperwege. Oft können wir nichts anderes als einfach nur Dasein und mit Aushalten.


Das Schicksal einer Familie, zu der wir vor drei Tagen gerufen wurden, lässt uns derzeit nicht los. Ende Juni ist die gesamte Familie mit dem Auto schwer verunglückt. Vater, Mutter und drei Kinder waren schwer bzw. schwerst verletzt. Die anfängliche Welle des Mitgefühls ist nach drei Monaten abgeebbt. Nun wurden wir gebeten zu kommen. Was ich dann sah, hat mir die Tränen ins Gesicht getrieben: die älteste schwer verletzte Tochter liegt mit dem Vater in einem Zimmer. Der Vater ist knapp über 40 und ist geschwächt und gezeichnet vom schweren Unfall. Er war der Fahrer und er wurde von einem anderen mit 140 Km/Std kollidiert. Der Gurt hat ihm die Därme zerrissen und immer noch liegt er mit einer grossen offenen Bauchwunde darnieder. Die Blutwerte werden täglich schlechter. Er hat einen künstlichen Darmausgang und der kann nicht zurück verlegt werden, wenn er sich nicht erholt. Die Bauchwunde ist miserabel versorgt, die Ernährungs-lage dieses gebrochenen Mannes schlecht. Zudem fühlt er sich schuldig, da seine blutjunge Tochter seitdem querschnittgelähmt im Bett neben ihm liegt. Dieses bildhübsche Mädchen finde ich in einem erschreckenden medizinisch und pflegerisch vernachlässigten Zustand. Die verzweifelte Mutter glaubt immer noch an das Wunder, dass ihre Tochter wieder auf die Füsse kommt. Keiner hat ihr die bittere Wahrheit wirklich gesagt und ihr die Chance gegeben, daran zu arbeiten. Sie ist völlig drauf fixiert, dass ihre Tochter im Ausland operiert wird und dann gesund ist. Neben der Wirbelverletzung hatte sie noch weitere schwerste Bauchverletzungen. Eine grosse, lange Narbe am Bauch zeugt davon. Auch Lore ist in einem schlechten Allgemeinzustand und völlig abgemagert. Der Blasenkatheter wird so alle drei bis vier Wochen mal gewechselt, niemals wurde ein Blasentraining begonnen usw. Ihre Bauchhaut ist dermassen schmerzempfindlich, dass sie nicht mal einen Bettbezug und auch keine Kleidung erträgt. Wir sahen noch die Pflasterreste von der Operation auf der schmutzig grauen Haut. Dringend ist hier Hilfe nötig. Wir wurschteln uns durch die ersten kleinen Schritte einer Linderung für die Beiden: Schmerzmittel, aufbauende Nahrung, Lagerungshilfen, genügend zu trinken, vorsichtiges Berühren des Körpers der Kleinen, eine milde Creme für die völlig ausgetrocknete Haut, Gespräche, Suche nach mehr Hilfe, dann erstmal ein klein wenig finanzielle Entlastung – zum Kauf von Fisch und Säften für die Kranken. Der Bruder des Familienvaters, der selbst vier Kinder hat, konnte seit dem Unglück nicht mehr zur Arbeit. Er hat die Kranken im Krankenhaus versorgen müssen, mit den Ärzten verhandelt. Die Operationen haben Unsummen verschlungen. Die beiden Brüder hatten ein Bauunternehmen aufgebaut, viel gearbeitet für die Existenz der Kinder. Mit einem Schlag war alles aus. Der Schock ist allen noch anzusehen. Und jetzt, nach drei Monaten kam halt niemand mehr. Erste Versprechungen auf schnelle Hilfe wurden nicht eingelöst. Aus der Mutter bricht dies dann bitter heraus beim ersten Besuch von mir. Ich kann nur zuhören und ihre Klage verstehen. Hiob wird mit ihr klagen. Dann ruft mich gestern Nachmittag der Bruder des verletzten Vaters an. Lore erbricht schon den ganzen Tag. Sr. Michaela und ich fahren raus. Sie hat eine Infusion mit wohl falschen Mitteln von der Krankenschwester bekommen. Nun kotzt sie ohne Ende. Ich spüre, wie ich wütend werde auf diese In-kompetenz ohne Namen. Den ganzen Tag hatte sie noch keinen Tropfen Urin ausgeschieden, auch nichts getrunken. Wir tun, was wir können. Am liebsten möchte ich die Kleine mit zu uns nehmen. Es geht ihr so schlecht. Die Mutter ist heute anders. Sie ist wie durchlitten, hat Vertrauen gefasst und ist vielleicht nun auch fähig zur Wahrheit. Leise sagt sie zu mir: „Ich habe dich nun verstanden.“ Ich nehme sie in den Arm und weiss, dass ein langer schwerer Weg bevorsteht. Gott wird mitgehen. Schwester Michaela erzählt ihnen die Geschichte von den Fussspuren im Sand. Am Abend kommen der Bruder und seine Frau zu uns. Er muss sich wohl entlasten. Und er erzählt einfach von den letzten Monaten. Die gesamte Last der Verantwortung liegt auf ihm, die finanzielle Not, die Schwere des Schocks, einfach alles. Dann sagt er: „Wir haben immer nur gegeben, nur gegeben, wir haben umsonst mit die Kirchen gebaut. Wir sind nicht gewohnt, etwas zu bekommen. Und nun seid ihr gekommen und ihr gebt.“ Er fällt mir in den Arm und weint. Er ist erschüttert. Dann sagt er: „Wir wissen jetzt, was Schwestern sind.“ Und er sagt noch: „Wir können nichts zurückgeben.“ Ich sage ihm: „Bruder, Ihr könnt eines tun und das ist gross: das alles aufopfern und beten!“ So gehen die beiden wieder in die Oktobernacht. Der Sternenhimmel ist fast wie ein Kontrast, aber an der Tür wissen wir alle, dass da EINER ist, der uns in diesen Tagen zu Schwestern und Brüder gemacht hat auf eine Weise, die wir uns so nicht selbst suchen.

Neben dem allem haben wir die Freude, dass in unserem Kindergarten wieder viele Kinder rumwuseln und das Leben in ihnen sprudelt. Wir haben auch die grosse Freude, viele, viele Hilfen von Euch allen zu bekommen. Da sind Transporte, da sind Besuche mit Mithilfe im Garten und beim Sortieren von Hilfsgütern, in der Ambulanz, alles Mitsorgen im Förderverein usw. Da sind Eure Spenden und Euer Wohlwollen und Eure Gebete, die uns die Kraft geben. DANKE für diese Treue und Solidarität.  „Gott vergelt`s!“  heisst es in meinem Dialekt. Gesegnete Herbsttage wünschtEuch


Sr. Christina

 

 

 

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