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Die letzte Tube Salbe oder: „Wir haben noch eine Tube!“


Liebe Schwestern und Brüder, liebe Freunde in der Heimat, grüss Gott.

Ich hoffe, es darf Euch allen gut gehen und Ihr habt einen guten und schönen Mai. Es ist Sonntag, bei Euch Muttertag. So wünsche ich allen Müttern einen schönen Tag und bitte die himmlische Mutter um Fürbitte für Euch alle. Warum wähle ich solch eine Überschrift: „Die letzte Tube Salbe“? Ja, die Antibiotikasalbe beschäftigt uns. Seit etlichen Tagen kauften wir aus allen Apotheken in Tirana und Shkoder die letzten Restbestände der Antibiotikasalbe auf. Die Zentralapotheke hatte uns gesagt, dass es keine Lieferungen mehr gibt. So haben wir die Apotheken nach den letzten Salbenbeständen abgeklappert und nun haben wir in der vergangenen Woche die letzte Antibiotikasalbe aufgemacht. Mir war etwas seltsam zumute bei dieser „Handlung“. Sr. Michaela und ich haben uns überlegt, bei welchem Patienten wir diese am meisten brauchen. Da stehe ich nun in der Ambulanz und drehe den Verschluss der Salbe bedächtig auf; der Patient hat keine Ahnung davon. Ich schlucke und denke an die Witwe von Sarepta. Also ist auch das die Sache unseres HERRN, nicht die Sache der desolaten Wirtschaft hier, denke ich. Und ich knausere nicht unbedingt heftig beim Schmieren auf die Kompresse. Irgendwie hätten wir nicht gedacht, dass wir jemals in diese Situation kommen werden. Nun, die letzte Tube. Wir fragen nicht, was wir dann machen mit den Patienten, mit den Wunden. Ich recherchiere überall, frage nach, ob man eine Antibiotikasalbe selbst machen kann. Antibiotikasaft geht, Salbe wohl nicht. Und dann geschehen da die kleinen Wunder: da kreuzt ein ehemaliger Patient auf und bringt eine halbe Tube der Antibiotikasalbe mit, die wir ihm noch zur Restheilung mitgegeben haben. Ich traue fast meinen Augen nicht und nehme die Salbe wie einen Klumpen Gold in Empfang. Und dann kommt Sr. Michaela. Sie hat in einer Apotheke noch zwei weitere Tuben zusammengekratzt. Die „Letzten“, wie der Apotheker sagte. So gehen wir in die kommende Woche – immerhin mit den zwei Salben in der Ambulanz.


Und wir gehen in die kommende Woche nach einer Nacht mit schweren Ausschreitungen bei der Demonstration in Tirana. Morgen sind weitere Demos angesagt – zum Sturz der Regierung. Seit Wochen steigert sich die Aggression, jede Demo ist gewaltvoller als die vorherige. Die verbalen Attacken sind massiv, nun folgten gestern schwere Handlungen. Die Leute sprechen inzwischen offen ihre Angst vor dem Bürgerkrieg aus oder sagen auch, dass es ohne Blutvergiessen nicht mehr geht. Die letzte Eskalationsstufe bei Konflikten nach Glasl ist erreicht: „Gemeinsam in den Abgrund!“ heisst es da. Da habe ich mir inzwischen aber noch einen Zusatz angefügt, den ich auch verfolge: „Bei Gott ist kein Ding unmöglich“. Ich möchte einfach daran festhalten, dass es noch einen anderen Weg als den der Zerstörung gibt. Und so haben wir mit der Jugend am Mittwoch schon das gemeinsame Gebet entschieden. Und heute bei der Frühmesse in der Kathedrale rief der Priester noch nach der Hl. Messe zum Gebet für die eskalierte Situation auf. Und das „Ave Maria“ und „Bitte für uns Sünder“ muss die Muttergottes von Shkoder, die Mutter des guten Rates, gehört haben. So denke ich, so arbeiten wir weiter, so hoffen wir weiter auf den Erhalt des Friedens unter der Bevölkerung. Ein Bürgerkrieg wäre eine Katastrophe. Aber wir sind nicht blauäugig und wissen auch, dass wir derzeit sehr nahe daran vorbei schlittern. Eine junge Mitarbeiterin vom Kinderhaus sagte mir, dass jeden Tag im Bus Diskussionen sind, dass ein Wort von ihr reichen würde, um dort Gewalt auszulösen. Vor der letzten Stufe der Eskalation – wir haben auf die Knie zu gehen. Und wir sind gerufen, Hoffnung zu geben, zu deeskalieren, da zu sein, wo niemand mehr ist. Ja, die Situation ist sehr „heiss“, wie man hier sagt. Auch für uns ist die Situation jeden Tag neu zu buchstabieren, das Ungewisse auszuhalten, dabei nicht stehen zu bleiben. Nicht zu wissen, ob wir morgen noch im Frieden sind oder Hass über Nacht alles entzweit hat und die Gewaltspirale vollends eskaliert. Es wirft uns auf das Leben zurück, wie es ist: zerbrechlich und angegriffen und – Gott sei Dank – in EINER Hand, die auch das Chaos ordnen kann: unser GOTT. Dies dachte ich gestern Abend, als vor dem Parlament eine Feuersalve um sich griff. Und so ist es auch für eine Mutter mit vier Jungs, die vor unserem Tor ist. Zwei ihrer kleinen Jungs leiden an der Bluterkrankheit. Und sie bringt mir ihren Kleinsten. Er ist sehr agil und gefallen. Er hat ein schweres Hämatom am Knie und am Kopf. Sie weiss inzwischen, was das bedeutet. Mit dem letzten Leke, den sie hatte, fuhr sie mit dem Autobus in die Uni-Kinderklinik nach Tirana. Dort sind sie bekannt. Diesmal wurde sie zurückgeschickt. Es gibt kein Gerinnungsmittel mehr. Kein Nachschub! Auch hier nichts mehr. Und sie sagt: „Wenn noch was im Kopf blutet, Schwester, dann verblutet er!“ Sie hat Angst. Mit Recht. Ich nehme sie und den Kleinen in den Arm. Ich kann nur beten. In diesen Momenten verbiete ich mir, an die Möglichkeiten in West-Europa zu denken. Dann sprudelt das ganze Elend aus dieser tapferen Frau raus. Die mickrige Rente für ihre Kids verbraucht sie schon für die teuren Busfahrten nach Tirana. Der Vater ist arbeitslos, höchstens ab und zu als Tagelöhner. Sie hatten am Vortag nicht mehr als ein Kilo Makkaroni im Haus – zum Essen. Und sie weint und guckt auf ihren hungrigen und bluterkranken zweijährigen Sohn. Es ist klar, dass wir hier da sein und helfen müssen. Aber das Gegenmittel, den notwendigen Gerinnungsfaktor, haben wir auch nicht. Jeden Tag kommen mehr Patienten zu uns. Das Krankenhaus in Shkoder scheint völlig zu kollabieren. Wir schnipseln inzwischen hier aus einem Infusionsbesteck eine Drainage für einen Mann, der in eine Bodenfräse kam. Der Vater von drei noch kleinen Kindern hat zudem einen sehr schnell voranschreitenden Parkinson. Er hat die Fräse bedient, weil er das Feld bestellen wollte trotz seiner Krankheit. Und er ist in die Fräse geraten: die gesamte linke Flanke in der Nierengegend ist zerschnippelt, ebenfalls der Unterschenkel und der Oberarm. Er kam dann nach dem Krankenhaus zu uns, da die Wunden nicht heilten. An der li. Flanke hat sich unter der Naht eine schwere Infektion gebildet. Wir schickten ihn zurück ins Krankenhaus und der Arzt eröffnete den Wundherd und schob einen so dicken Magenschlauch da rein (als Drainage), dass der Patient fast umgekippt ist vor Schmerzen. Der Arzt meinte dann noch, wenn er es nicht aushalte, so soll er diese halt daheim wieder ziehen. Dies tat der Patient auch und kam so wieder zu uns. Auch diese Familie ist ruiniert; sie haben sich schon vorher für Parkinson-Medikamente dumm und dämlich bezahlt. Wir haben nun vorgestern provisorisch diese selbst geschneiderte Drainage gelegt und hoffen, dass wir dann morgen einen Arzt finden, der diesen armen Mann in die Obhut nimmt. Die Situation im Kranken-haus ist schwer zu beschreiben, fast unglaublich. So wurde vor einigen Tagen durch ein Filmteam bekannt, dass seit mindestens drei Monaten der gesamte Krankenhausmüll nicht mehr abgeführt und entsorgt wird. Auf dem Klinikgelände sammelt sich seitdem völlig ungeschützt der gesamte Krankenhausmüll, einschliesslich radioaktiver Abfälle von Kontrastmitteln und menschlicher Gewebe von Operationen. Die wilden Katzen haben jedenfalls ihre helle Freude, die Ratten werden diese Gelegenheit sicher auch nutzen. Aber die Müllentsorgung ist im gesamten Land so desolat, dass in Velipoje die Tourismussaison am Meer nicht geöffnet werden konnte. Der Strand ist noch nicht vom Müll gesäubert und gleicht deshalb einer Müllhalde. Trotz allem wird Albanien als Abenteuer-Tourismusland derzeit gut gehandelt und ist attraktiver denn je. Immerhin kann man ja einen Blut-Turm besichtigen, der Zufluchtsort für Blutracheopfer auf der Flucht war. Dass noch Familien in dieser Situation leben, ist dann schon ein bisschen schwieriger zu verkraften. So sprachen mich neulich Deutsche vor der Kathedrale an, und wollten wissen, ob ich von diesem Phänomen schon gehört hätte. Ihr Reiseleiter habe ihnen gesagt, dass es Blutrache jetzt nicht mehr gebe. Tja!!?? Ich hätte ihnen gerne unser Drama gezeigt. Und unsere Jugend erzählen lassen. Und da muss ich Euch noch von Vera und ihrer Familie berichten. Sie sind seit langer Zeit in Blutrache. Die Tochter hat jetzt einen Schneiderinnenkurs gemacht. Aber sie kann nicht raus, da die Brüder isoliert sind. Ihr kleiner 16-jähriger Bruder geht immer wieder zur Schule, aber er hat Angst. Bislang war Versöhnung nicht möglich. Nun bat mich der Vater, zum Rächer zu gehen. Vorher wollte er es nicht. Er hatte Sorge, dass wir dann in Schwierigkeiten geraten. Auch diese Familie ist einfach am Ende. Sie leben von der Rente der Oma, die aber nun dement ist und ständige Aufsicht braucht. Amelina ist nun 20 Jahre alt, sie weint, wenn sie von der Zeit erzählt, wo sie noch frei waren. Aber 13 Jahre Isolation sind eine lange Zeit. So werde ich nun diese Woche, sobald das Wetter stabiler ist, in die Berge gehen - so am Ende der Welt – und dort um Vergebung betteln, wenigstens um die Freilassung der zwei Jungs. Und wir werden Amelina eine Nähmaschine geben, vielleicht haben wir auch ab und zu einen Nähauftrag für sie. Diese Kinder haben ihre Kindheit und Jugend im Horror verbracht. Die Touristen sehen nur den Blutturm, der wie aus dem Mittelalter klingt. Es ist vielleicht auch gut so. Derweil und wie zum Trotz blühen bei uns im Garten Unmengen von Rosen in Gelb und Rot und Rosa und Orange und Weiss und wir alle haben Freude an dieser Fülle. Und ich wünsche Euch allen zu Pfingsten hin die Fülle des göttlichen Lebens in all Euren Ideen, Eurem Denken und Tun. Und ich danke einmal mehr für alle Unterstützung und alle treue Hilfe. Und wir bitten um Euer Gebet für dieses Volk in diesen schweren Tagen.

Mit herzlichem Segensgruss

 

Eure Sr. Christina

 

wir haben noch eine tube

 

Solange unsere Kids noch lachen können …….

 

 

 

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